Allmacht und Absolutheit im Christentum

Für viele ist das erste, was ihnen in den Kopf kommt, wenn sie Gott hören, eine tatsächliche, meist männliche Person, die in einem jenseitigen Himmelreich regiert und die in das Leben der Menschen nach Belieben eingreifen kann. Er ist allwissend und allmächtig. Hier kommen schon zwei Grundbegriffe vor, die für das Christentum entscheidend sind: Gott ist jenseitig und hat ein Bewusstsein ähnlich dem des Menschen, das ihn als handelnde Person definiert. Natürlich existieren auch im Christentum ausdifferenzierte philosophische Konzepte, die Gott als eine allumfassende, vielleicht sogar mystische Entität bzw. Einheit begreifen. An dieser Stelle jedoch geht es um ein populäres Bild, welches bei den meisten implizit vorhanden ist, wenn von einem Gott die Rede ist. Das Christentum ist monotheistisch.

Die Grundlage für diese ideologische Vorstellung liefert das Hauptwerk, das das Christentum begründet: die Bibel. Das erste Gebot „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ stellt den christlichen Gott auf eine exklusive Position. Diese garantiert ihm das alleinige Herrschafts- und Definitionsrecht, das heißt, er darf alleine herrschen und bestimmen, was richtig und was falsch ist. Dieser Absolutheitsanspruch ist durchaus typisch für das Christentum, genauso wie für Judentum und Islam.

 

Dennoch dürfen auch moderne Tendenzen, überkonfessionelle und interreligiöse Dialoge zu führen, nicht außer Acht gelassen werden. So ist die Ökumene ein gutes Beispiel dafür, dass Christen untereinander ins Gespräch kommen und Standpunkte, die nicht dem eigenen entsprechen, akzeptiert werden. Wichtig ist an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen einem gemäßigten Christentum, das sehr individuell gelebt werden kann und einem fundamentalen Christentum, welches der religiösen Praxis eine wörtliche Bibelauslegung zugrundelegt. Dieses steht naturgemäß anderen Auffassungen eher konservativ gegenüber. Natürlich ist es typisch menschlich und nachvollziehbar, dass man das, was man selbst für richtig hält, für absolut richtig zu erklären. Man findet dieses Verhalten in vielen Ideologien und Glaubensvorstellungen - auch im Heidentum. Dennoch stellt das Neuheidentum generell den individuellen Zugang zur Spiritualität verstärkt in den Vordergrund. Die Erfahrung des Einzelnen und seine eigene Reflektion entscheidet, was derjenige für richtig hält und glauben will. Aber man sollte nicht annehmen, dass sich Christentum und Heidentum per se unversöhnlich gegenüberstehen. Eine verstärkte Individualität und Öffnung zur eigenen Erfahrung findet sich auch im modernen Christentum.

 

Götter, Geister und Energien

Im Neuheidentum existieren viele Gottesvorstellungen gleichberechtigt nebeneinander. Das mag für jemanden, der mit dem Christentum aufgewachsen ist, zunächst befremdlich wirken. Wie kann jener an den Gott glauben und ein anderer an einen zweiten Gott, ohne, dass sie sich gegenseitig widersprechen? Ein Grundsatz, der das Neuheidentum zu einem attraktiven, alternativen Glaubensangebot macht, ist der, dass die eigenen Erfahrungen einen sehr hohen Stellenwert haben. Was jemand persönlich erfährt, ist mehr wert als das, was einem jemand anders über einen Gott erzählen könnte. Du erfährst Gott als einen allumfassenden Geist? Dann zeigt er sich Dir so. Ich erfahre ihn in einem persönlichen Gewand als Odin oder Gaia oder oder oder... Die Möglichkeit anzuerkennen, dass ein anderer Mensch das Göttliche völlig anders erfahren kann als man selbst nutzt diese persönliche Legitimation als Grundlage. Es ist prinzipiell vom Göttlichen möglich, dass es sich dem einen so zeigt und dem anderen so. Jeder hat einen eigenen Zugang, der in der Vorstellung der meisten Heiden lediglich den eigenen Entwicklungsstand oder die eigene Empfänglichkeit widerspiegelt. Das Göttliche ist ein Sender und je nach der eigenen Antenne empfängt man ihn/sie/es als Bild, als Ton, mit Rauschen oder ohne. Ebenso gibt es auch Neuheiden, die völlig ohne ein Bild vom Göttlichen auskommen oder es sogar ablehnen. Dort steht an höchster Stelle die Natur an sich.

 

Das Göttliche in der Natur

Boubinsky-Bach im Naturreservat Certova stena, Tschechische Republik
Boubinsky-Bach im Naturreservat Certova stena, Tschechische Republik

Dass das Göttliche sehr nah mit der Natur verbunden ist, ist eine zweite wichtige Grundlage in den meisten neuheidnischen Vorstellungen. Entweder repräsentiert sich das Göttliche in Naturerscheinungen, es ist mit ihnen identisch oder Naturerscheinungen erhalten eine personifizierte Form in Göttern. Es gibt viele Formen, die von Animismus, Polytheismus über Pantheismus sogar bis hin zu einem Monotheismus reichen können. Diese “Ismen” werden an dieser Stelle einzeln näher beschrieben. Den meisten Neuheiden ist das Göttliche „diesseitig“ im Gegensatz zum christlichen, jenseitigen Gott. Jenseitig meint hier vor allem, dass Gott nicht identisch mit der von ihm geschaffenen Welt ist. Der göttliche Funke ist aber in allem enthalten. Im christlichen Dinne steht die Natur unterhalb von Gott, sie ist durch seine Hand entstanden, aber nicht gleichbedeutend mit ihm. Die Schöpfung Gottes zu bewundern ist daher nicht dasselbe wie den Schöpfer zu verehren. Gott zeigt sich DURCH die Natur.

 

© ls