Kosmologie

Die Kosmologie der nordischen Mythologie ist komplex und vielschichtig. Es gibt Geschichten über die Entstehung der Welten und ihren Untergang. Die Welten können mithilfe des Weltenbaums Yggdrasil beschrieben werden, aber es gibt auch ein konzentrisches Bild der Welten. Die Schöpfung der Menschen wird ebenfalls in der Edda beschrieben. In diesem Bereich finden sich außerdem Vorstellungen zu den Bestandteilen der Persönlichkeit des Menschen und eine Überlegung zum Thema Gender bzw. Vorstellungen von Männlich- und Weiblichkeit.  

Die Schöpfung der Welt

In der Lieder Edda berichtet die Völuspá über die Schöpfung der Welt. Das Lied berichtet von einer Seherin (Völva), von der Odin etwas erfahren will und beschreibt umfassend die Kosmologie der Germanen. Die Völva erzählt von der Schöpfung der Welt und der Menschen, von den Göttern und anderen mythischen Wesen und auch vom Weltuntergang. Das Lied ist wahrscheinlich um das Jahr 1000 entstanden. Einige Schilderungen besonders rund um Ragnarök scheinen bereits von christlichen Motiven beeinflusst zu sein.

Ymir wird von Odin und seinen Brüdern getötet; Bild: Lorenz Frølich
Ymir wird von Odin und seinen Brüdern getötet; Bild: Lorenz Frølich

Bevor die Welt entstand gab es nur die große Leere, Ginnungagap und den Urriesen Ymir. Die ersten Götter Odin, Wili und We (wobei letztere in anderen Sagen nicht erwähnt werden. Hier handelt es sich eventuell um eine Anspielung auf die Dreifaltigkeit des christlichen Gottes) hoben das Land und schufen so die Welt der Menschen. Es gab bereits die Sonne, Mond und Sterne, aber sie waren sich ihrer nicht bewusst und hatte keinen festen Platz am Himmel. Die Götter gaben ihnen Namen und die Funktion, die Zeit zu zählen. Sie schufen auch die Zwerge aus dem Leib Ymirs.

 

Im Wafthrudnirlied wird mehr über die Erschaffung der Welt aus dem Leib Ymirs erzählt. In diesem Gedicht kommt Odin in die Halle Wafthrudnirs und die beiden beginnen einen Wettbewerb, wer klüger ist bzw. mehr weiß. Wafthrudnir berichtet, dass aus Ymirs Fleisch die Erde geschaffen wurde, aus seinen Knochen die Berge, aus seinem Schädel der Himmel und aus seinem Blut das Meer. In der Grímnismál berichtet Odin in einem Wissensgedicht ebenfalls von Ymir und fügt an, dass die Götter aus den Wimpern des Riesen Midgard geschaffen haben und aus seinem Gehirn die Wolken.

 

In der Prosa Edda wird die Schöpfungsgeschichte zusammengefasst und ergänzt. Hier beschreibt Snorri, dass Ginnungagap zwischen der Eiswelt Niflheim im Norden und der Feuerwelt Muspelheim im Süden. In der Mitte dieser beiden Extreme entstand in der milden Luft der Riese Ymir. Unter seinen Armen wuchsen ein Mann und eine Frau und durch das Zusammenschlagen seiner Füße zeugte er einen Sohn, von dem alle Reifriesen abstammen. Aus dem Eis in Ginnungagap taute außerdem die Urkuh Auðhumla, die mit ihrer Milch den Riesen nährte. Sie schleckte aus dem Eis Búri frei, den Stammvater der Götter, dessen Sohn Börr Odin, Wili und We zeugte. Diese wiederum erschlugen Ymir und so schließt sich der Kreis zu der Lieder Edda.

 

Ragnarök: der Weltuntergang

Der Kampf der untergehenden Götter; Bild: Wilhelm Wägner
Der Kampf der untergehenden Götter; Bild: Wilhelm Wägner

Die Völuspá wird auch vom Untergang der Welt und dem Schicksal der Götter berichtet. Es beginnt mit dem Fimbulwinter, einem drei Jahre währenden Winter. Drei Hähne werden krähen und furchtbare Kämpfe ausbrechen. Heimdall bläst das Gjallarhorn. Zwei Wölfe verschlingen Sonne und Mond und die Sterne stürzen zur Erde, die daraufhin bebt. Der Fenriswolf kann sich von seinen Fesseln befreien und die Midgardschlange kommt an Land. Das Totenschiff Naglfar segelt über das überflutete Land.

 

Loki führt die Riesen aus Muspelheim in den Krieg gegen die Asen. Auch der Feuerriese Surt wirft sich in den Kampf. Odin kämpft gegen den Fenriswolf und fällt. Freyr stellt sich Surt und erliegt dem Riesen. Odins Sohn Widarr rächt seinen Vater und ersticht den Wolf. Thor tötet die Midgardschlange, stirbt aber an ihrem Gift. Loki und Heimdall erschlagen sich gegenseitig. Surt schleudert Feuer über die ganze Welt, die daraufhin vergeht.

Loki befreit sich von seinen Ketten; Bild: Hermine Möbius
Loki befreit sich von seinen Ketten; Bild: Hermine Möbius

Dies ist aber nicht das Ende des Lieds: aus dem Meer steigt eine neue Erde auf und das Leben beginnt erneut. Die verbliebenen Asen treffen zusammen und erinnern sich der alten Zeiten und Geheimnisse. Es entsteht ein neues Paradies und auch Balder kehrt von den Toten zurück. Der Schluss des Lieds wirkt stark christliche beeinflusst: “Dann kommt der Mächtige zum erhabenen Gericht, der Starke von oben, der alles lenkt.” Besonders diese Strophe erinnert an die Beschreibung der Offenbarung des Johannes und das Jüngste Gericht. Nach neuesten Forschungen ist das Thema des Götterkrieges und Weltuntergang an sich aber heidnisch.

Yggdrasil: Die neun Welten

Die Welt entstand aus dem Urchaos zwischen Niflheim und Muspelheim. Ihr Aufbau kann entweder in konzentrischen Kreisen beschrieben werden, wobei Asgard das Zentrum bildet. Gängiger ist aber das Bild des Weltenbaums Yggdrasil. In der Reclam-Fassung der Edda wird Yggdrasil als Esche beschrieben, die Forschung geht aber davon aus, dass es sich eigentlich um eine Eibe handelt.

Yggdrasil; Bild: Oluf Bagge
Yggdrasil; Bild: Oluf Bagge

In der Grímnismál und in der Prosa Edda werden die Bewohner des Weltenbaums beschrieben: in der Spitze sitzt ein Adler, zwischen seinen Augen sitzt der Habicht Vedrfölnir. Am Stamm des Baumes rennt das Eichhörnchen Ratatöskr auf und ab und vermittelt zwischen Adler und dem Drachen Nidhöggr. Dieser nagt an der Wurzel des Baumes, die nach Niflheim zu der Quelle Hvergelmir reicht. Eine weitere Wurzel führt ins Reich der Riesen Jötunheim, wo sich auch Mimirs Brunnen befindet. Die letzte Wurzel reicht nach Asgard. Die vier Hirsche Dain, Dwalin, Dunneir und Durathror fressen die Triebe des Weltenbaums ab. Außerdem leben die zwei Schlangen Goin und Moin auf Yggdrasil und nagen ebenfalls an den Wurzeln. Am Fuße des Baumes steht der Urdbrunnen, an dem die drei Nornen das Schicksal weben.

 

Die Welten können auf drei Ebenen auf Yggdrasil angeordnet werden. Dabei gibt es verschiedene Auffassungen, in welcher Reihenfolge die Welten kategorisiert werden. Eine Möglichkeit ist die Unterteilung in Oberwelt, Erde und Unterwelt. Oben stehen dann dementsprechend Asgard, die Heimat der Götter, Wanenheim, die Heimat der Wanen und Alfheim, wo die Alben leben. Auf der Ebene der Erde gibt es die Welt der Menschen, Midgard,  die Heimat der Riesen Jötunheim und Muspelheim, wo die Feuerriesen leben. In konzentrischen Kreisen angeordnet bewohnen die Riesen die Randgebiete der Welt, die für Menschen zu unwirtlich sind. Dazu gehören Gebirge, Vulkane und die eisigen Ebenen des Nordens. Über den Rand der Welt hinaus geht es dann in die Gebiete der Feuerriesen. Die Unterwelt teilt sich in die Reiche Svartálfaheim, in dem die Zwerge leben, Niflheim und Hel, die Wohnstatt der Toten. Egal wie man die Welten nun anordnet: Midgard ist immer der Mittelpunkt oder das Herzstück des Baumes, von dem aus alle anderen Welten erreicht werden können.

Das Menschenbild in der nordischen Mythologie

In der nordischen Mythologie wird beschrieben, wie die Götter die Menschen schufen. Dennoch ist die Beziehung zwischen Göttern und Menschen in der germanischen Religion weniger hierarchisch als beispielsweise im Christentum. Die Teile der Persönlichkeit sind teilweise durch die Sippe geprägt, teils selbst bestimmt. Auch wenn es eine Vorstellung vom Schicksal (wyrd) gibt, ist es nicht absolut, gottgegeben und unveränderbar. Mann und Frau sind in spiritueller und politischer Sicht gleichgestellt, auch wenn sie in der Welt in der Regel unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Die einzelnen Teile des Menschenbildes in der germanischen Religion werden in den folgenden Unterkapiteln beschrieben.

 

Schöpfung des Menschen

 

Ask und Embla; Bild: Robert Engels
Ask und Embla; Bild: Robert Engels

Die Völuspá beschreibt, wie die Menschen erschaffen wurden: drei Asen fanden am Strand zwei Baumstämme. Sie besaßen kaum Kraft, keinen Verstand und keinen Atem. Der Lieder Edda zu Folge gab Odin den Stämmen den Atem, Hönir die Vernunft und Lodurr das Blut und das Leben. In der Prosa-Edda wird hingegen von den Göttern Odin, Vili und Ve gesprochen. Durch die Gabe der Götter entstanden Askr und Embla.

Menschenbild

Ein essentieller Teil des Menschen ist sein Schicksal. In der altnordischen Überlieferung gibt es zwei Worte, die auf dieses Konzept hinweisen: wyrd und ørlög. Viele kennen das Bild der Nornen: drei Schwestern, die das Schicksal der Menschen weben. Sie heißen Urd (Schicksal), Verdandi (die Werdende) und Skuld (Schuld, das, was sein soll). Das wyrd ist das Schicksal einer Person oder auch einer Suppe. Es ist nicht unveränderbar, sondern gleich eher einer Art Teppich, der ein bestimmtes Muster vorgibt. Das wyrd bezieht sich auf die kausalen Zusammenhänge im Leben des Einzelnen, aber auch seiner Vorfahren, die den weiteren Lebensweg bestimmen. Es ist mit der östlichen Idee des Karmas vergleichbar, aber weniger ego-bezogen. Das ørlög hingegen beschreibt eher die kosmischen Grundgesetze, die absolut  sind. Man könnte auch von einer Art Weltenseele sprechen.

Die Nornen; Bild: Ludwig Pietsch
Die Nornen; Bild: Ludwig Pietsch

Das Menschenbild der Germanen umfasste verschiedene Elemente der Persönlichkeit. In der angelsächsischen Überlieferung gibt es acht Teile: Mynd beschreibt das Wissen einer Person oder auch ihr Gedächtnis. Hyge bezeichnet die Wahrnehmung, Mód und Wod die Gefühle und Inspiration. Ein weiterer Teil der Persönlichkeit ist das Glück, über das eine Person verfügt. Es wird Spæd genannt. Jeder Mensch hat außerdem einen Fetch, einen eigenständigen Schutzgeist, der innerhalb der Sippe weitervererbt wird. Außerdem gibt es den Hame, den Astralkörper. Der Lebensodem wird als Athem bezeichnet. Er verbindet Seele und Körper. Der letzte Teil ist Líc, der Körper.

Die altnordische Überlieferung beschreibt zehn Teile des Menschen: Hugr bedeutet soviel wie Stimmung oder auch Inspiration, Munr die Erinnerung. Aldr ist der Vorrat an eigenem Leben. Dieser Auffassung zu Folge wird jeder Mensch mit einem bestimmten Vorrat an Aldr geboren, der im Laufe des Lebens verbraucht wird. Fjör ist das Bewusstsein, Önd die Erkenntnis. Móðr bezeichnet die Tapferkeit einer Person, Hamingja ihr Glück. Glück ist aber auch innerhalb der Sippe vererbbar. Außerdem verfügt jeder Mensch über (Geistes) Kraft und Stärke. Außerdem hat jeder Anteil am ørlög, dem Gesamtschicksal. Außerdem gibt es noch den Astralkörper, der als Hamr bezeichnet wird.

 

Neben den Teilen der Persönlichkeit gibt es auch Schutzgeister, die Menschen begleiten. Sie werden fylgja genannt. Dabei gibt es sowohl fylgja, die nur einer Person zugeordnet werden und allgemeine Sippenfylgja. Auch Dísen können über einen Menschen wachen. Diese spielen auch bei Seiðr eine Rolle. Dazu hier mehr.

Walhall; Bild: Emil Doepler
Walhall; Bild: Emil Doepler

Es gab verschiedene Vorstellungen, was mit den Menschen nach ihrem Tod geschieht. Manchmal wird zum Beispiel über ein Weiterleben der Toten in ihren Grabhügeln berichtet. Dafür sprechen auch die Grabbeigaben, die gefunden wurden. Eine weitere Form der Bestattung war die Feuerbestattung. Diese galten als besondere Ehrbezeugung. Andererseits gab es auch bei den Germanen den Glauben an Wiedergänger - Tote, die wiederauferstehen und die Lebenden heimsuchten. Mit einer Feuerbestattung konnte dies verhindert werden.

 

Eine weitere Vorstellung beschreibt das Totenreich, in das die Toten eingehen und zum Beispiel bei den Göttern leben. Die heldenhaften Krieger, die in der Schlacht starben hielten sich als Einherjer bei Odin auf. Frauen, die bei der Geburt gestorben sind kamen zu Frigg. Das bekannteste Reich der Toten war Hel und der gleichnamigen Göttin unterstellt. Um den Toten für ihre Reise ein entsprechendes Transportmittel zu geben waren auch Schiffsbestattungen oder Bestattungen mit Pferden überwiesen. Generell gab es die Ansicht, dass ein Mensch nach seinem Tod wieder mit seiner Sippe vereint wird.

 

Viele germanische Heiden berufen sich auf neun heidnische Tugenden als Maß für eine gute Lebensführungen. Diese Tugenden (ohne spezielle Reihenfolge) sind: Mut, Aufrichtigkeit, Ehre, Tüchtigkeit, Standhaftigkeit, Treue, Selbstbeherrschung, Gastfreundlichkeit und Selbstbestimmung. Darüber hinaus gibt es auch weitere wichtige Werte, zum Beispiel Gleichheit und Gerechtigkeit, Stärke, Geisteskraft, Weisheit und Einsicht, Freigebigkeit und Großzügigkeit. Zudem spielt auch die Sippe eine wichtige Rolle für das Leben in der Gemeinschaft. Eine Erläuterung zu den jeweiligen Werten gibt es hier.

 

Männer und Frauen

Männer und Frauen sind in der germanischen Religion gleichberechtigt. In eher konservativer Auffassung gibt es die Ansicht, dass es typische Aufgabenbereiche gibt, die dem jeweiligen Geschlecht zugeordnet sind. Ganz klassisch sind Männer Krieger, Frauen im Haushalt und Mütter. Nun ist das heute nicht mehr ganz zeitgemäß und wird in der neugermanischen Gemeinschaft so auch nicht von den Mitgliedern erwartet. Für beide Geschlechter gilt die gleiche Ethik, die gleichen Rechte und Pflichten. Auch in religiöser Hinsicht können sowohl Männer als auch Frauen Rituale leiten und durchführen.

 

Dennoch gibt es einige Aktivitäten, die hauptsächlich als männlich oder weiblich angesehen werden. Ein Beispiel hierfür sind die verschiedenen Wettbewerbe, in denen die Teilnehmer ihre Kräfte messen. Hier gibt es eine Verbindung zum Thema Krieger. In Amerika wird in manchen Gemeinschaften auch die rituelle Jagd praktiziert, bei der in abgeschlossenen Gebieten Großwild auf traditionelle Weise (also mit Speer und Messer) gejagt und getötet wird. Dies dient in diesen Gemeinschaften als Initiationsritus für junge Männer.

 

Frauen hingegen praktizieren oft traditionelle Handarbeit wie Weben. Aber auch in spiritueller Hinsicht hat das germanische Heidentum einiges zu bieten: bei den alten Germanen gab es die Seherinnen, die eine wichtige Rolle in Kultur und Politik eingenommen haben. Daran knüpft die Praktik des Seidr an. Dazu hier mehr.

 

Auch wenn Männer und Frauen gleichgestellt sind, gibt es hinsichtlich des Themas Ehre manchmal unterschiedliche Ansichten. So könnte sich ein Mann in seiner Ehre verletzt fühlen, wenn man ihm nachsagt, “unmännliche” Tätigkeiten auszuüben oder sich unmännlich zu verhalten. Dies wurde bei den alten Germanen mit dem Begriff “ergi” bezeichnet, der als Beleidigung galt. Der Begriff kann sich auch auf Homosexualität beziehen.

 

Seidr wurde ebenfalls als “ergi” bezeichnet - eine Praxis, der sich nur Frauen bedienen und für einen Mann nicht ehrenvoll galt. Er hatte seine Probleme auf männlich-kriegerische Weise zu lösen. Paradox ist diese “Beleidigung” in dem Sinne, als dass auch Odin sich des Seidr bediente. Im modernen germanischen Heidentum wird die Debatte um Gender und der negativen Wertung weiter geführt und es besteht der Versuch, die negative Konnotation des Begriffs aufzulösen und Seidr auch männlichen Praktizierenden wertfrei zu öffnen. Die Praxis des Seidr ist in konservativen Kreisen allgemein umstritten, da sie beispielsweise in der Ynglinger Saga als verpönt und Männern nicht würdig beschrieben wird.

©kb