Seiðr: Germanischer Schamanismus

Seiðr bezeichnet in der germanischen Mythologie allgemein Magie. In der Sagas wird diese Form der Magie meist von Frauen betrieben. Setzt ein Mann Seiðr ein, galt das als ergi, unmännlich. Allerdings lernte auch Odin diese Form der Magie von der Göttin Freya. Es gibt Beschreibungen von Seiðr in den Eddas, den isländischen Sagas sowie in der altenglischen Lyrik und Volkssagen. Wie aber auch bei den Erläuterungen zu Ritualen lässt sich daraus nicht die vollständige Praxis der Germanen ableiten.

 

Heute wird Seiðr vor allem als eine Art nordischer Schamanismus praktiziert. Hier besteht eine Verbindung von Neuheidentum und Neoschamanismus, wobei letzterer als Inspiration hinsichtlich der Praxis gesehen wird. Im Neoschamanismus wird die Anderswelt-Reise als Technik gesehen, die prinzipiell jeder lernen kann. In Seiðr wird diese Technik in das Weltbild des germanischen Heidentums eingebunden.

 

Seiðr kann als Seelenarbeit verstanden werden. Ihre Technik ist "spae" von "spá" - Weissagung und sie dient als Orakel für Schutz- und für Heilzauber. Sie verbindet klassische schamanistische Themen wie Seelenreise, Begleitgeister (fylgja) mit Fragen der Heilung oder Persönlichkeitsentwicklung. Die Orakelarbeit kann öffentlich in großem Rahmen oder in kleinen Gruppen durchgeführt werden.

 

Die Grundidee dabei ist, dass jeder Mensch sein eigenes “Wyrd” hat (siehe Menschenbild), eine Art dynamisches Schicksal, das er aber beeinflussen kann. Durch Kenntnis des Wyrd ist er in der Lage, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ein Seiðrmagier sind in der Lage, die Fäden des Wyrd zu lesen. Fragen können aber auch von den Göttern oder anderen Wesen wie beispielsweise Jöten oder Disen beantwortet werden. Dafür reist der Seiðrmagier bzw. die Seiðrmagierin in eine der neun Welten. Yggdrasil ist dabei die Achse der Verbindung zwischen den Welten. Weissagungen werden in der Regel von den Nornen gemacht, die ihr Wissen aus dem Reich der Hel (Totenreich) beziehen

 

Es gibt einige Gemeinsamkeiten zwischen Seiðr und Schamanismus: im klassischen sibirischen Schamanismus gibt es drei Welten, die über den Weltenbaum miteinander verbunden sind. Der Schamane reist am Stamm entlang in die verschiedenen Welten. In der germanischen Vorstellungen gibt es zwar mehr Welten, aber diese können jeweils auf drei Ebenen des Baums  (Wurzeln, Stamm, Krone) angesiedelt werden. Als Technik für die Seelenreise wird sowohl im klassischen als auch “germanischen “ Schamanismus die Trance verwendet.

 

Seiðr wird nicht von allen germanischen Heiden anerkannt. Manche lehnen es ab, weil es nicht authentisch durchgeführt werden kann oder sie die Zielsetzung, also Arbeit mit Geistern oder auch Kommunikation mit den Göttern in diesem Rahmen ablehnen. Ein weiterer Streitpunkt ist, inwiefern Seiðr als “ergi” gilt. Dazu hier mehr. Andererseits steigt die Beliebtheit von Seiðr in der Gemeinschaft und es gibt immer mehr Angebote mit Workshops oder offenen Ritualen.

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