Wenn Odin wieder über die Erde wandelt

Der Begriff Neuheidentum bezeichnet eine Reihe von verschiedenen Traditionen und Glaubensrichtungen, die teilweise nur schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Generell beziehen sich die meisten Neuheiden auf die Tradition ihrer Vorfahren - eine nicht-dogmatische, prophetenfreie Religion ohne heilige Schriften und Dogmen, bei der das Handeln im Vordergrund steht. Sie war eng mit der Natur verknüpft und zelebrierte den Wechsel der Jahreszeiten. Diese Religion wird von den Neuheiden heute wiederbelebt bzw. “wiedererfunden”.

Isländische Aufgabe der Prosa-Edda aus dem 18. Jahrhundert
Isländische Aufgabe der Prosa-Edda aus dem 18. Jahrhundert

In der Regel beziehen sich Neuheiden auf die vorchristlichen, europäischen Religionen, also z.B. die Religion der Römer, Griechen, Kelten oder Germanen. Während der Kult des römischen Reichs und des alten Griechenlands gut dokumentiert ist, gibt es zu den andere Religionen meist nur indirekte Quellen. Dazu zählen Geschichte, Sprachwissenschaft, archäologische Funde und Berichte über die jeweiligen Völker. Bei den überlieferten Schriften wie beispielsweise Edda (germanische Mythologie), Kelevala (finnische Mythologie) oder Ossian (keltische Mythologie) muss berücksichtigt werden, dass sie nicht von den jeweiligen Völkern selbst verfasst wurden. Die Edda wurde beispielsweise von christlichen Mönchen verfasst, die traditionelle Sagen und Dichtkunst bewahren wollten. Es ist aber unwahrscheinlich, dass sie beim Schreiben völlig neutral vorgegangen sind und die christlichen Vorstellungen keinen Einfluss auf ihr Werk genommen haben.

 

Auf der Suche nach Wurzeln und kultureller Identität wenden sich viele Menschen dem Heidentum zu. Dabei kann man sich einerseits an tatsächlicher biologischer Verwandtschaft mittels Ahnenforschung orientieren. Eine andere Möglichkeit ist die “geistige” Verwandtschaft. In diesem Fall wählt man eine Kultur oder Epoche, mit der man sich besonders verbunden fühlt.

 

Wie kann man aber ein authentisches Heidentum leben, wenn man nicht weiß, wie die Religion damals tatsächlich ausgeübt wurde? Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten: einerseits kann man versuchen, die Tradition so genau wie möglich wiederzubeleben. Diesen Weg schlagen Rekonstruktionisten ein. In diesen Traditionen werden Rituale praktiziert, die tatsächlich überliefert wurden und auch hinsichtlich der Mythologie wird großer Wert auf Genauigkeit gelegt. Rekonstruktionistische Gruppen sind häufig konservativer und lehnen eklektische Richtungen, die verschiedene kulturelle Elemente wie z.B. Götterpantheons oder rituelle Praktiken mischen, ab.

Isis - Ägyptisches Wandbild 1360 v. u. Z.
Isis - Ägyptisches Wandbild 1360 v. u. Z.

Ein Beispiel für eine rekonstruktionistisch ausgerichtete Tradition ist die Church of the Eternal Source (CES, Kemetismus) in Amerika, Frankreich und Tschechien. Die CES versteht sich selbst als wiederbelebte Kirche der ägyptischen Religion, die die ursprünglichen Götter auf möglichst ursprüngliche Art und Weise verehrt. Ihre Anhänger gehen davon aus, dass die wahre antike Religion auf den Prinzipien der Ökumene, des Polytheismus und der Kunst beruht. Authentische ägyptische Religion heute zu leben heißt für sie, diese Prinzipien zu verwirklichen.

 

Alternativ betonen moderne Heiden mehr die geistige Verwandtschaft zum antiken Paganismus. Man knüpft an die Idee einer naturverbundenen Religion an, ohne den Anspruch zu erheben, die ursprügliche Religion authentisch weiter zu praktizieren. Die Vergangenheit wird teilweise idealisiert: die edlen Druiden, die friedlich im Wald gelebt haben und natürlich nicht an Menschenopfern beteiligt waren - aber dies ist den meisten Anhängern des Heidentums auch bewusst. Anstatt zu rekonstruieren wollen sie eine moderne Version entwickeln, die teilweise an antike Vorstellungen anknüpft, teilweise aber auch neue Traditionen und Rituale entwickelt.

 

©kb