Überlieferung und Quellen

Texte

Als rekonstruktionistische Religion legen Anhänger der germanischen Heidentums großen Wert auf historische Genauigkeit und orientieren sich dabei sowohl an antiken Quellen als auch den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Aus der Antike zählen dazu beispielsweise Reiseberichte oder Beschreibungen der antiken Völker von griechischen und römischen Autoren. Der bekannteste Bericht stammt von Tacitus in seinem Werk Germania. Bei diesen Texten gilt es immer zu bedenken, dass sie als Außensicht auf einzelne Ausschnitte der germanischen Völker aufgezeichnet wurden. Dabei instrumentalisierten die Autoren der Antike sie teilweise als Gegenbild der zivilisierten Römer als Barbaren oder sie zeichnet das Bild des “Edlen Wilden”, der noch eng mit der Natur verbunden lebt und seine wahre Stärke kennt. Dies wurde als Gegensatz zu der dekadenten römischen Bevölkerung dargestellt.

Titelblatt einer Snorra Edda aus dem 16. Jahrhundert
Titelblatt einer Snorra Edda aus dem 16. Jahrhundert

Für die Religion sind vor allem die Eddas relevant: die sogenannte Ältere Edda beschreibt Helden- und Göttersagen in Reimform. Sie wurde im 13. Jahrhundert von christlichen Mönchen aufgezeichnet. Die Sagen selbst sind teilweise um einiges älter, lassen sich aber nur schwer genau datieren. Die sogenannte Jüngere Edda oder Prosa-Edda wurde von Snorri Sturluson als Handbuch für Skalden (nordische Dichter) verfasst. Sie stammt ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert und zeichnet germanische Mythologie auf. Beide Werke stammen aus einer Zeit, in der das Christentum schon lange vorherrschend war und in einigen Ausschnitten der Texte lassen sich klare christliche Motive erkennen (beispielsweise die Wiederauferstehung des “weißen” Balders, einem Gott, der symbolisch für das Reine und Gute steht, in der sonstigen nordischen Mythologie aber keine bedeutende Rolle spielt). Hinzu kommen allgemein die nordischen Götter- und Heldensagen.


Neben den Eddas ist auch die altenglische Überlieferung interessant. Das bekannteste Werk ist der Heldenepos Beowulf, das in Skandinavien spielt und wahrscheinlich seinen Ursprung auch in der nordischen Kultur hat. Das Werk entstand ca. 700 unserer Zeitrechnung und spielt ungefähr 100 Jahre zuvor. Das altenglische Runengedicht ist das einzige, das die Namen der Runen des Älteren Futharks überliefert. Ebenfalls aus England stammt der Neun-Kräuter-Segen. Dieser überliefert in Reimform die Zubereitung und Wirkung von Heilkräutern. Im zweiten Teil dieses Gedichts ist eine Anspielung auf Wodan/Odin enthalten, deren Bedeutung aber noch nicht geklärt ist.

Wissenschaft

Schiffsgrad in Dänemark, Bild: Malene Thyssen
Schiffsgrad in Dänemark, Bild: Malene Thyssen

Auch die Erkenntnisse der Wissenschaft spielen eine wichtige Rolle. Das germanische Heidentum ist prinzipiell konservativ in der Hinsicht, dass es wenig Einflüsse aus anderen Religionen adaptiert, wie es z.B. in eklektischen, neuheidnischen Religionen der Fall ist. Dennoch ist diese neuheidnische Ausrichtung in der Regel weder dogmatisch noch lehnt sie die Erkenntnisse der modernen, wissenschaftlichen Forschung ab. Es ist eher das Gegenteil der Fall: da die Anhänger des germanischen Heidentums die Religion so authentisch wie möglich ausüben möchten, d.h. sofern möglich genauso wie in vergangenen Zeiten, werden die Erkenntnisse der Wissenschaft in der Regel in die religiöse Praxis aufgenommen.


Die Archäologie gibt beispielsweise Aufschluss über Bestattungszeremonien und dementsprechend Jenseitsvorstellungen der Germanen. In Gräbern wurden auch viele Kunstgegenstände und andere Objekte gefunden, die Aufschluss über das Leben der Germanen geben. Anhänger des germanischen Heidentums können zwar weder in Grabhügeln bestattet noch auf einem Schiff verbrannt werden, aber die Einäscherung mit einer entsprechenden Zeremonie ist auf den meisten kommunalen Friedhöfen erlaubt. Anleitungen oder Angebote für entsprechende Rituale finden sich bei den meisten größeren Vereinen, beispielsweise dem Verein für germanisches Heidentum oder Eldaring.


Es gibt eine Vielzahl von Runensteinen, deren Inschriften und bildliche Darstellungen weitere Einblicke in die religiöse Praxis der Germanen bieten. Ein Großteil der Runensteine beschreibt die Lebensgeschichte einzelner Personen oder ganzer Familien. Interessanterweise ist ein beträchtlicher Anteil dieser Steine Frauen gewidmet, was wiederum darauf schließen lässt, dass Frauen in der germanischen Gesellschaft durchaus eine wichtige Rolle gespielt haben. Andere Steine beschreiben explizit religiöse Szenen oder Taten. Bis heute sind aber noch nicht alle Inschriften entschlüsselt.


Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Sprachwissenschaft. Die wichtigsten Texte des germanischen Heidentums - die Eddas und Sagas - sind in altnordisch verfasst. Neue Erkenntnisse der Sprachwissenschaft helfen dementsprechend, diese Texte noch besser zu verstehen und auch Runeninschriften zu entschlüsseln. Viele germanische Heiden legen großen Wert darauf, die Texte im Original zu lesen und selbst zu interpretieren oder andere Bedeutungen berücksichtigen zu können. Dementsprechend besitzen viele Heiden eine gut ausgestattete Bibliothek mit Originalwerken und wissenschaftlichen Büchern.

Moderne Adaptionen

Die nordische Mythologie hat über die Zeit hinweg immer wieder Künstler fasziniert und inspiriert und so treffen wir bis heute nordische Götter, Trolle und Elfen. Ob in Literatur, Film, Musik oder Spielen: bestimmte Elemente tauchen immer wieder auf und prägen auch über 1000 Jahre später unser Bild von germanischen Göttern und ihrer Kosmologie. Hier werde ich nur kurz ein paar Beispiele aufzeigen.

Literatur

Gandalf der Graue von Nidoart
Gandalf der Graue von Nidoart

Der Stoff der germanischen Götter- und Heldensagen hat durch die Epochen hindurch Dichter und Autoren fasziniert. Einer der berühmtesten uns prägendsten Fantasy-Autoren unserer Zeit ist J.R.R. Tolkien. Mit Herr der Ringe und Der kleine Hobbit hat er Werke geschaffen, die Generationen begeistert haben und ein weltweites Publikum haben. Mit den Filmen wurden Bilder geprägt und bestimmte Figuren werden oft als erstes mit den Darstellungen des Films verknüpft: der Magier ist Gandalf, ein Hobbit hat große Füße, Elfen gibt es nicht nur in kleiner Version mit Flügeln, sondern auch als große, stattliche Krieger mit langen Haaren und Zwerge sind klein und stämmig und leben in Bergen. Auf der Seite der Gegner findet sich ein entsprechendes Arsenal an mythischen Wesen: Orks, Trolle, Drachen, Wolfswesen und viele andere.


Eine detaillierte Analyse der Einflüsse auf Tolkiens Werke kann selbst ganze Bücher füllen. Ein paar Beispiele stechen besonders hervor: in der nordischen Mythologie wird Odin als alter, einäugiger Mann mit einem blauen oder grauschwarzen Mantel, langem Bart und breitkrempigen Hut beschrieben. Dies entspricht mit Ausnahme der Einäuigkeit der Darstellung Gandalfs. Auch charakterlich gibt es Parallelen zwischen dem zauberkundigen und trickreichen Odin und dem Zauberer aus dem Herrn der Ringe.


Auch die verschiedenen Wesen des Tollkien-Universums finden ihre Vorbilder in der nordischen Mythologie: in der skandinavischen Überlieferung gibt es die Schwarzalben: bärtige, weise Wesen, die in Felsen wohnen und als die besten Schmiede gelten. Die Lichtalben hingegen stehen eher den Elben Tolkiens nahe, wobei letztere komplexer sind und stärker von den mythologischen Vorbildern abweichen. Natürlich finden auch Trolle und Riesen einen Platz in Tolkiens völkerreicher Welt. In der nordischen Mythologie gehören sie zum Geschlecht der Riesen oder Jöten. Die Germanen glaubten, dass Trolle nur des nachts ihr Unwesen treiben können, da sie in der Sonne zu Stein erstarren. Mehr zu den verschiedenen Wesen gibt es hier.

Musik

Mathias Nygård, Sänger der Band Turisas, Bild: Cecil
Mathias Nygård, Sänger der Band Turisas, Bild: Cecil

Von klassischer Musik bis hin zu Viking Metal: musikalisch wird der Stoff der nordischen Mythologie bis heute verarbeitet. Der Ring-Zyklus von Richard Wagner ist eines der bekanntesten Beispiele. Wagner bearbeitete die Nibelungen-Sage, die in der Edda als Sigurd-Lied erzählt wird. Es tauchen eine Reihe von Göttern auf: Wotan (Odin), Fricka (Frigg), Freia (Freya), Donner (Thor) und andere. In der Vorgeschichte erzählt Wagner von Odins Selbstopferung, bei der er neun Tage an dem Weltenbaum Yggdrasil hing, um neues Wissen zu erlangen und dabei ein Auge verlor.


Im Verlaufe der Geschichte tauchen immer wieder bekannte Motive auf, z.B. der Bau der Himmelsburg Odins, für die er einen Riesen als Baumeister verpflichtete, diesen aber um seinen Lohn betrog. Auch die goldenen Äpfel der Götter, die ihnen ewige Jugend spenden werden erwähnt. Im Gegensatz zur germanischen Überlieferung ist bei Wagner aber Odins Gemahlin Frigg die Wächterin der Äpfel, nicht die Göttin Idun.

Josef Hoffmanns Bühnenbild Entwurf "Die Walküre"
Josef Hoffmanns Bühnenbild Entwurf "Die Walküre"

Die Walküren erwählen laut der Beschreibung der Edda die Gefallenen der Schlacht für den Einzug in Walhalla, Odins Halle, aus. Dort kämpfen und feiern sie bis zu dem Tag, an dem sie während Ragnarök für die Götter kämpfen werden. Ähnlich beschreibt sie auch Wagner, wobei die Walküren hier als Töchter Odins auftreten und ihn vor dem Helden Albrich schützen sollen.


Es gibt noch viele weitere Beispiele. Zusammenfassend kann man aber sagen, dass Wagner die nordische Mythologie insgesamt doch recht eigenwillig interpretierte, um sie seiner Gesellschaftskritik anzupassen. Wagners Opern erfreuten sich vor allem in der NS-Zeit großer Beliebtheit und seine Interpretation wurde weiter instrumentalisiert und entsprechend der damaligen Ideologie eingesetzt.


In der heutigen Popmusik setzen sich die verschiedensten Genres mit der nordischen Mythologie auseinander. Die Band Odroerir (benannt nach dem Dichtermet) vertont beispielsweise verschiedene Edda-Lieder in deutscher Übersetzung. Im Pagan Folk werden  generell heidnische Themen und altes Liedgut musikalisch aufbereitet. Die Band Faun vertonte zum Beispiel in Egils Saga einen Teil einer Isländersaga über Egill Skallagrímsson, der eine kranke Frau mit Runenzauber heilte. Das schwedische Volkslied Herr Mannelig (hier z.B. in der Version von Garmarna oder etwas rockiger von In Extremo) erzählt die Geschichte von einer Bergtrollin, die einen schwedischen Mann heiraten möchte und ihm allerlei Kostbarkeiten verspricht. Er lehnt aber ab, weil sie keine christliche Frau, sondern ein böser Troll ist, woraufhin sie weinend wegrennt.

Film

Wie bereits zum Thema Tolkien erwähnt prägen Filme stark unsere Vorstellung von bestimmten Figuren wie Magiern, Trollen oder auch Göttern. Besonders deutlich wird das in der Comic-Verfilmung von Marvels Thor. Hier ist Thor ein durchtrainierter Hüne, der sich durch unglaubliche Stärke und seinen Hammer Mjölnir auszeichnet, mit dem er fliegen und Blitze auf seine Feinde schleudern kann. Im Gegensatz zur altnordischen Überlieferung ist Thor aber nicht rothaarig, sondern blond.

Thor und Odin© 2013 MVLFFLLC. TM & © 2013 Marvel. All Rights Reserved.
Thor und Odin© 2013 MVLFFLLC. TM & © 2013 Marvel. All Rights Reserved.

Auch Loki spielt eine wichtige Rolle als irgendwie liebenswerter Bösewicht, der wie in den alten Göttersagen viel Unheil verursacht, aber auch dabei mithilft, alles wieder auszubügeln. Weitere Götter sind Odin und seine Gemahlin Frigg (im Film Thors Mutter). Heimdall bewacht wie in der Überlieferung Bifröst und ist in der Lage, alle Welten zu sehen. In der Edda trägt er de Beinamen “der Weiße”, wird im Film aber von einem schwarzen Schauspieler dargestellt. Zu den Gefährten Thors gehört unter anderem Siv. Sie ist in der Edda die Frau Thors. Auch Walhalla, die Regenbogenbrücke Bifröst und die Eisriesen werden im Film eindrucksvoll inszeniert.


Als Unterhaltung hat Marvel sicher nicht den Anspruch, die nordische Mythologie originalgetreu darzustellen, sondern nutzt sie eher als Inspiration für Comics und Filme. Gleiches gilt auch für die Anime-Serie Oh! My Goddess. Hier bestellt sich die Hauptfigur aus Versehen eine der drei Nornen bei einem Göttinnen-Telefonhotline. In der Serie werden verschiedene mythologische Elemente aufgegriffen, die Story entwickelt sich aber nicht entsprechend bekannter Sagen oder Heldenlieder.

Der dänische Zeichentrickfilm Walhalla von 1986 erzählt einige Thor-Sagen: Thors und Lokis Besuch bei einer Bauernfamilie, bei der Thor seine Ziegenböcke schlachtet und sie unter der Voraussetzung keine Knochen zu zerstören für die Mahlzeit zur Verfügung stellt. Am nächsten Morgen belebt Thor mit Hilfe seins Hammers die Ziegenböcke wieder, aber einer lahmt, weil einer seiner Beinknochen gebrochen wurde. Zur Strafe muss der Sohn der Familie Thor dienen. Im Film schmuggelt sich auch die Bauerntochter auf den Wagen und die beiden Geschwister begleiten Thor bei weiteren Abenteuern. Die Darstellung der Sagen und Götter hält sich in diesem Film eng an die Beschreibungen der nordischen Quellen.

©kb